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Mittwoch, 10. April 2013

Happy Birthday, dear Kreuz!

Es ist kaum zu glauben, aber das Kreuz Solothurn, die älteste Genossenschaftsbeiz der Schweiz, wird heute vierzig Jahre alt. Das Kreuz hat in dieser Zeit viele Auf und Abs erlebt, manchen alten Zopf abgeschnitten und manche Neuerung eingeführt. Nach der Gründung am 10. April 1973 war das Kreuz für viele SolothurnerInnen ein rotes Tuch, heute ist Solothurn ohne Kreuz nicht mehr denkbar. Die Genossenschaft hat sich ständig weiterentwickelt und ist auf eine gute Art und Weise älter geworden. Deshalb: Happy Birthday, dear Kreuz!

Montag, 1. April 2013

Ausserirdische Rüebli

Am Ostersamstag haben wir wieder einmal Gäste eingeladen und bekocht. Zum maremmanischen Rindsschmorbraten gabs Kartoffeln und Wurzelgemüse vom Blech. Beim Einkauf habe ich bei Coop ein Pack Karotten Triomix erstanden mit zwei orangen Rüebli, drei weissen Rüebli und einem schwarz-violetten Rüebli. Bin ja gespannt, wie diese ausserirdische Karotte schmeckt, dachte ich.


Bildquelle: Kochblog von Kaffeebohne

Dass es neben den klassischen, orangen Karotten auch noch gelbe ...


Bildquelle: Kochblog der Wilden Henne

... und weisse Karotten gibt, wusste ich, ...


Bildquelle: www.gemuesehof.ch

... aber schwarz-violettei?

Das Wurzelgemüse vom Blech hat meinen Gästen geschmeckt, doch nur zu gerne hätten wir gewusst, welche Karottensorten im Karotten-Triomix von Coop-Naturaplan drin waren. Meine Rüebli-Recherche ergab folgendes:
  • Gemäss Wikipedia ist die Karotte (Daucus carota), auch bezeichnet als Möhre, Mohrrübe, Gelbrübe, Gelbe Rübe oder Rüebli eine Gemüsepflanze aus der Familie der Doldenblütler (Apiaceae). Karotten sind in der EU hinter den Tomaten das am zweitmeisten geerntete Gemüse.
  • Die orange Sorte ist gar nicht so alt. Wahrscheinlich ist sie im 17. Jahrhundert in den Niederlanden entstanden durch die Kreuzung von gelben und von rotvioletten Karotten, die beide ursprünglich aus Afghanistan stammen.
  • Bei den weissen Karotten, deren Ursprung im Mittelmeerraum liegt, vermuteten wir, es handle sich um Küttiger Rüebli, eine alte Schweizer Karottensorte, die in den 1970er Jahren wieder entdeckt wurde. Aber im Sortenfinder von Pro specie rara ist noch eine andere weisse Karottensorte aufgelistet, die in Frage kommt: die Blanche à Collet Vert.
  • Die schwarz-violetten Rüebli sind eine neue Sorte mit dem Namen Beta Sweet, die in den 80er und 90er Jahren in Texas durch die Kreuzung einer fast schwarzen Ur-Karotte mit der uns vertrauten orangefarbenen Karotte entstanden ist.
  • Die gelben Karotten schliesslich sind in der Schweiz als Pfälzer Rüebli bekannt — diese Sorte ist vermehrt auch im Supermarkt erhältlich, war aber nicht in meinem Triomix.
Wer alles und noch mehr über die Karotte erfahren will, sollte sich unbedingt einmal auf www.carrotmuseum.co.uk umschauen.

Und um auf das ausserirdische Rüebli zurückzukommen: Es heisst Beta Sweet, kommt aus Texas und sieht toll aus: aussen schwarz-violett und innen orange. Es sei carotinhaltiger als herkömmliche Sorten und schmecke etwas süsser, aber das kann ich aufgrund des Karottenviertels, den ich kosten konnte, nicht wirklich beurteilen.

Und ganz zum Schluss das Karotten-Universum nochmal in allen Farben:


Bildquelle: commons.wikimedia.org

Sonntag, 31. März 2013

Wahrheitsberg und Blumeninseln

"Hier genügte es, nackt zu tanzen" sagte der Philosoph Peter Sloterdijk im Interview der SonntagsZeitung vom 24.3.2013 über den Monte Verità als Utopie. Das erinnerte mich daran, dass ich schon letztem Sommer einen Eintrag über unseren Ausflug auf den Tessiner Wahrheitsberg schreiben wollte. Ausserdem in diesem Beitrag: Festivalitis für Touristen, eine Höhenwanderung über dem Lago Maggiore und eine Insel mit wunderschönen Blumen.

1. Ascona — Festivalitis für Touristen


Ascona im Juni 2012: an der Hafenpromenade, in der für JazzAscona geschmückten Hauptgasse und einer herausgeputzen Nebengasse

Anlass für das Interview mit Sloterdijk ist der Primavera Locarnese, ein dreiteiliges vorösterliches Festival bestehend aus Eventi letterari auf dem Monte Verità mit dem Titel "Utopien und herrliche Obsessionen", einem Rahmenprogramm "Youtopia" und einem vom Filmfestival Locarno veranstalteten Filmprogramm "L'immagine e la parola". Eingeladen sind klingende Namen wie Stararchitekt Mario Botta, Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und eben Philosoph Peter Sloterdijk, der mit Enzensberger und Gunhild Kübler die Frage diskutiert, warum Utopien scheitern. Das alles tönt interessant und recht verlockend, allerdings werde ich den Verdacht nicht los, der Locarneser Frühling diene vor allem einem früheren Start in die touristische Ostersaison, denn von den Einheimischen wird sich bestenfalls die deutschsprechende Fraktion für dieses Festival interessieren.

Als wir im letzten Sommer Ascona besuchten, war auch gerade ein Festival im Gang: Überall standen Bühnen für die 28. Ausgabe von JazzAscona, einem Festival, das sich dem traditionellen Jazz und dem New Orleans Beat verpflichtet hat. Auch dieses Festival, das 2009 über 70'000 BesucherInnen anzieht, ist auf den Tourismus ausgerichtet: Mit seinem musikalischen Profil spricht es gezielt ein älteres, zahlungskräftiges Publikum an und hilft im Juni dem Locarnese beim Start in die Sommersaison. Für meine touristische Festivalitis-These spricht auch, dass sich 2009 der Verkehrsverein Lago Maggiore entschied, das Festival zu behalten und weiterhin selber zu veranstalten statt die Durchführung einer privaten Gruppe aus Deutschland zu überlassen (vgl. Geschichte von JazzAscona).

2. Wanderstart mit Treppenweg

Nach der Besichtigung des herausgeputzten Touristenstädtchens beginnt die Wanderung gleich hinter der Hauptgasse mit dem Aufstieg auf den Monte Verità, von wo wir hangparallel nach Ronco sopra Ascona weiterwandern und dann nach Porto Ronco am Lago Maggiore absteigen — ein Treppenabstieg, der es in sich hat und in die Knie fährt. Unsere Wanderroute:

Zum Vergrössern auf die Karte klicken!
Anreise von Locarno mit dem Bus der FART nach Ascona. Rot eingezeichnet ist unsere Wanderung treppauf zum Monte Verità, auf einem schönen Panoramaweg nach Gruppaldo und — weniger schön, aber aussichtsreich — auf asphaltierten Strassen nach Ronco und dann steil treppab zum Hafen von Ronco. Rückfahrt nach Locarno per Schiff der italienischen Navigazione Lago Maggiore mit einem Zwischenhalt auf den Isole di Brissago. Die roten Zahlen beziehen sich auf die Zwischentitel im Beitrag.
Quelle der Basiskarte: map.geo.admin.ch



Am oberen Ende des Treppenwegs zeigt der Blick zurück die schöne Lage von Ascona an der einen Ecke des Maggiadeltas, aber auch dass der beliebte Touristenort kein idyllisches Fischerdörfchen mehr ist.

3. Monte Verità — die Ruinen der gelebten Utopie



Auf dem Gelände des Monte Verità (im Uhrzeigersinn von oben links): Der Torre dell'utopia, die Villa Semiramis, eine erhalten gebliebene Open-air-Dusche und die Casa dei Russi, die russischen Studenten nach der Revolution von 1905 als Schlupfwinkel diente

Der Monte Verità war gemäss Wikipedia in der Pionierphase in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine lebensreformerische Künstlerkolonie, die heute als eine der Wiegen der Alternativbewegung gilt. Die Gründer der Kolonie waren überzeugt, dass die Änderung des eigenen Lebens eine Veränderung der Welt bewirken könne. Sie versuchten, ihre Utopien zu leben.

Für Ise Gropius war der Monte Verità "der Ort, an dem unsere Stirn den Himmel berührt..." — schöner könnte man die magische Anziehungskraft nicht beschreiben, die vom Monte Verità ausging und heute noch legendär ist. Das Zitat stammt aus einem Text von Harald Szeemann, der 1978 durch seine vielbeachtete Ausstellung "Mammelle delle verità" den Hügel über Ascona wieder zu einem Gesamtkunstwerk machte. Der lesenswerte und mit historischen Bildern illustrierte Text veranschaulicht sehr schön das Leben der Pioniere auf dem "Berg der Wahrheit": "Ihre angestrebte Gesellschaftsform, die kooperative Systeme, Frauenemanzipation, Gewissensehe, neue Erziehungsformen, die Einheit von Seele-Geist-Körper in gelebte 'Wahrheit' umsetzen will, ist am besten als privat-besitzfreie urchristlich-kommunistische Gemeinde zu umschreiben."

Auf dem Monte Verità wurde diese Utopie zwar nicht in der Gemeinschaft gelebt, denn schon die GründerInnen verfolgten unterschiedliche Ziele. Aber einzelne verwirklichten ihre Ideale mit solchem Feu sacré, dass der "Berg der Wahrheit" rasch Idealistinnen und Utopisten, Aussteigerinnen und Aussenseiter der Gesellschaft aus ganz Europa und aus Übersee anzog: Theosophen, Lebensreformer, Anarchisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Psychoanalytiker, dann Literaten, Schriftsteller, Dichter und Künstler und schliesslich die Emigranten der beiden Weltkriege. (vgl. Harald Szeemann)


"Roue Oriflamme" (1962) von Hans Arp, einem der vielen Künstler, die vom Monte Verità magisch angezogen wurden.


Unser Mittagessen, ein Tintenfischsalat im Restaurant Monte Verità, hat sicher nicht den Idealen der "vegetabilen Cooperative" vor 100 Jahren entsprochen.


Der deutsche Bankier Eduard von der Heydt liess 1929 vom Architekten Emil Fahrenkamp ein Hotel im Bauhausstil errichten.

Mit den Jahren wurde der Monte Verità immer mehr zum Sanatoriumsbetrieb, der 1920 wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit auch aufgegeben wurde. Mit dem im Bauhausstil erbauten Hotel erlebte der "Berg der Wahrheit" ab 1926 eine zweite Blütezeit, die 1940 abrupt endete. Heute ist der Monte Verità ein Hotel mit Restaurant, ein Tagungszentrum mit Kulturprogramm und ein Museum, das den Mythos pflegt. Der Monte Verità ist aber auch eine öffentliche Parkanlage mit den Überresten einer längst entschwundenen Utopie — und es fühlt sich an wie in römischen Ruinen: Das damalige Leben wird zwar vorstellbar, bleibt aber doch seltsam unbeseelt. In den Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegungen jedoch wirken die Impulse vom "Berg der Wahrheit" weiter bis in die Gegenwart.

4. Hoch über dem Lago Maggiore

Der Panoramaweg der vom Monte Verità nach Ronco führt, verläuft zunächst in einem parkähnlichen, lichten Wald, dann auf einer geteerten Nebenstrasse durch die verstreuten Villen am Hang über dem Lago Maggiore und bietet immer wieder einen herrlichen Ausblick auf den Langensee, wie der See auf deutsch heisst:

Zum Vergrössern aufs Bild klicken! Das 180°-Panorama reicht vom Maggiadelta mit Ascona über den Monte Gambarogno bis weit nach Italien. Das andere Ende des Lago Maggiore ist nicht zu sehen: Es liegt rund 50 Kilometer südlicher in der Nähe von Arona (Provinz Varese).

5. Ronco sopra Ascona



Um zwei Uhr mittags wirkte Ronco wie ausgestorben — keine Menschenseele war zu sehen. Nicht einmal eine Katze huschte über die Dorfstrasse. Mit den Isole di Brissago vor Augen stiegen wir die Treppen nach Porto Ronco hinunter.



6. Die Navigazione Lago Maggiore

Die Schifffahrt auf dem Lago Maggiore wird von der italienischen Gestione Navigatione Laghi betrieben. Neben Längsfahrten von Locarno ins rund 40 Kilometer entfernte Stresa bietet sie Tragflügelbootverbindungen nach Luino, aber auch fünfminütige Überfahrten auf die Isole di Brissago an.



Unser nächstes Ziel, die Blumeninseln von Brissago, ...



... und der Blick zurück auf den Villenhang von Ronco.

7. Blumeninseln mit Frostschaden

In Extravagante Baronin hat Frau Frogg die interessanteste Geschichte, die mit dem botanischen Garten auf den Isole di Brissago verknüpft ist, sehr schön erzählt. Als wir die klimatisch milden Blumeninseln besuchten, waren etwa ein Drittel der subtropischen Pflanzen vom vorangegangenen kalten Winter frostgeschädigt — ein herber Rückschlag für den 1950 eröffneten Parco botanico. Trotz Frostschaden konnten wir uns an den prachtvollen Blüten kaum sattsehen:







Fragt mich nicht nach den Namen dieser wunderschönen Blumen — ich weiss nur noch, dass die weissen, feinen Blüten im untersten Bild zu einem australischen Teebaum gehören. Mit einem wohlverdienten Bier und einer stündigen Schiffsfahrt zurück nach Locarno endete dieser wunderschöne und abwechslungsreiche Ausflug nach Ascona, auf den Wahrheitsberg und die Blumeninseln von Brissago.

Mittwoch, 13. März 2013

Abstrakt-konkrete Landschaften

Die Luzerner Galerie im Zöpfli zeigt Bilder mit abstrakt-konkreten Landschaften von Thomas Muff — schön, dass der Krienser Künstler wieder einmal zu einer Einzelausstellung kommt, sind doch seit seiner letzten grösseren Ausstellung in der Region Luzern fünf Jahre vergangen.



Thomas Muffs Bilder entstehen meist in zwei Phasen: einer abstrakten und einer konkreten. Die erste Farbschicht, die der Maler manchmal aus dezenten, oft aber aus leuchtenden Farben aufträgt, ist Ausdruck von kreativem Chaos: Es ist zwar nicht Action Painting, aber die Farben laufen runter, werden verschmiert, mischen sich. Es entsteht ein abstraktes Gemälde mit streifigen Strukturen, mit farbigen Schlingen und Schlaufen.



Auf diese abstrakte Grundlage projiziert der Künstler in einer zweiten Phase Fotos aus seinem Fundus und überträgt ausgewählte Elemente meist in dunklen Farben auf den farbigen Bildgrund aus der ersten Phase. Dabei entstehen konkrete Bildinhalte, die wie Scherenschnitte oder Schattentheater aussehen, streng-kontrolliert wirken und durch gezieltes Auswählen und Weglassen gleichzeitig eine witzig-verspielte Komponente einbringen. Während sich Thomas Muff in der ersten Phase bemüht, den chaotischen Prozess einigermassen unter Kontrolle zu halten, geht es in der zweiten Phase darum, die kontrollierte Strenge aufzubrechen.



Bis 2007 waren auch die Bildinhalte abstrakt: geometrische Formen wie Rechtecke, Kreise oder Kreuze. Seither wurden sie laufend konkreter, detaillierter und feiner — konsequenterweise sind mit der Konkretisierung der Inhalte Muffs Bilder nicht mehr O.T. sondern betitelt. Obiges Bild, mit Acryl und Öl auf Holz gemalt, trägt beispielsweise den Titel "Big China" und erinnert entfernt an fernöstliche Landschaftsmalerei, die ja auch nie eine konkrete Landschaft abbilden, sondern immer Gefühle vermitteln wollte.



An der Vernissage vom letzten Donnerstag sprach Kunstvermittler und Ausstellungskurator Urs Sibler, der das Museum Bruder Klaus in Sachseln leitet, von der Bilderküche des Künstlers — eine sehr anschauliche Beschreibung des Ateliers und der Arbeitsweise von Thomas Muff. Über Malerei zu schreiben und zu reden ist ganz und gar nicht einfach, aber Sibler gelang es, auf eine recht sinnliche und treffende Weise ins Werk des Krienser Künstlers einzuführen.



Die abstrakt-konkreten Landschaften von Thomas Muff vermögen zu faszinieren, weil er es schafft, dass die Gegensätze abstrakt und konkret sich gegenseitig befruchten: Das Abstrakte wird konkretisiert — das Konkrete abstrahiert.

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Die Einzelausstellung von Thomas Muff in der Luzerner Galerie im Zöpfli ist noch bis am 13. April 2013 zu sehen. Öffnungszeiten: Mi – Fr 13.00–17.30 Uhr, Sa 10.00–16.00 Uhr. Adresse: Im Zöpfli 3, 6004 Luzern.

Rechtzeitig zu dieser Ausstellung ist ein neuer Katalog der Werke von Thomas Muff erschienen. Der druckfrische Katalog ist in der Galerie im Zöpfli zu kaufen.

Samstag, 9. März 2013

Schnorri & Schlarpi weggeblasen

Wer schaut sie nicht immer wieder gern, die Clips von gesprengten und in sich zusammenfallenden Hochhäusern, Fabrikschloten, Brücken etc.? Das Show-Down dauert nur wenige Sekunden, wird dafür meistens mehrmals zelebriert. Dann hüllt jeweils eine gewaltige Staubwolke das Geschehen ein und zurück bleibt ein riesiger Trümmerhaufen.

So ist es auch dem Sprecherhof, dem markanten Hochhaus kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Aarau, ergangen — es wurde in der Nacht auf Freitag gesprengt. Das Medienecho war schon im Voraus gross und entsprechend gross war auch der Aufmarsch an Schaulustigen:


75 Kilo Sprengstoff legen den 5000 Tonnen schweren Koloss aus Beton und Stahl in Schutt und Asche (Youtube-Video von webgardentv).

Der Zürcher Tagesanzeiger berichtete ausführlich über das Spreng-Spektakel. Die Zeitung brachte eine ganzseitige Vorschau und beleuchtete auf der Hintergrundseite sämtliche Aspekte der Sprengung des Rockwell-Hochhauses — von der Geschichte des Gebäudes und der damit verbundenen Firma Sprecher + Schuh über andere spektakuläre Sprengungen, die weltweit für Furore sorgten, bis zu den Details der geplanten Sprengung in Aarau.

Auf dem Hochhaus prangte lange Zeit das einprägsame Logo des Elektrounternehmens Sprecher + Schuh. Gemäss Historisches Lexikon der Schweiz verlegte die 1900 von Carl Sprecher und Hans Fretz gegründete Firma ihren Sitz 1901 nach Aarau und wurde 1902 — nach dem Firmeneintritt von Heinrich Schuh — in Sprecher + Schuh AG umbenannt. Das Aargauer Unternehmen, das von den Aargauern liebevoll "Schnorri + Schlarpi" genannt wurde, florierte und expandierte. Anfang der 1980er Jahre geriet das börsenkotierte Unternehmen jedoch in finanzielle Schwierigkeiten. Es erfolgten mehrere Strategiewechsel und Umstrukturierungen, die schliesslich zu einer Aufteilung des Unternehmens in drei Bereiche führte, die einzeln verkauft wurden. Der Niederspannungsbereich ging an den US-Konzern Rockwell, der das Schnorri+Schlarpi-Hochhaus übernahm. Interessanterweise gibt es den Firmen- und Markennamen Sprecher + Schuh nach wie vor: Die in Houston, Texas, ansässige Firma vertreibt elektrotechnische Produkte in Australien, Neuseeland, Indien, Mexiko, Kanada und in den USA, aber nicht in Europa. Nicht ohne Stolz verkündet sie auf ihrer Homepage, dass ein Teil ihrer Produkte immer noch in Aarau hergestellt werden...

Der Tagi-Hintergrundbericht endet damit, dass der "Spreng-Künstler" der Nation, Roman Signer, gute Sprengung wünscht. Letzlich mag die Sprengung des Schnorri+Schlarpi-Hochhauses ein toller Event für Schaulustige gewesen sein, doch bezüglich Poesie sind die Sprengungen von Roman Signer nach wie vor unübertroffen:


Kurzer Ausschnitt aus dem 1995 entstandenen filmischen Künstlerportrait Signers Koffer (Vollversion) von Peter Liechti (auf Youtube hochgeladen von lyplo)

Donnerstag, 7. März 2013

Stadt-Land-Graben

Letzten Sonntag hat die Schweiz wieder einmal abgestimmt. Zum fetten JA zur Abzockerinitiative beglückwünscht uns die halbe Welt. Aber ob sie tatsächlich ein probates Mittel gegen die Abzockerei in den Teppichetagen ist, wird sich in der Umsetzung erst noch weisen. Das JA zum Familienartikel in der Verfassung wurde durch ein fehlendes Ständemehr zu einem NEIN — und sofort wird die Abschaffung des Ständemehrs gefordert, was angesichts der Tatsache, dass die Stimme eines Appenzellers 41 mal mehr Gewicht hat als die Stimme einer Zürcherin, irgendwie nachvollziehbar ist. Aber das wichtigste JA, dasjenige zum neuen Raumplanungsgesetz, fand in den Medien das geringste Echo — zum Glück hat die Angstmacherei mit Horrormieten beim Stimmvolk nicht verfangen.

Dass der Familienartikel trotz 54.3% Ja am Ständemehr scheiterte, ist halb so schlimm, denn die notwendigen Kinderbetreuungsplätze werden in den Städten auch ohne diesen Verfassungsartikel geschaffen und in den Gebieten, wo das traditionelle Familienbild noch aufrecht erhalten wird, würden sie auch mit Verfassungsartikel nicht entstehen. Wo wohnt diese konservative Minderheit, für die "staatsbetreute Kinder" des Teufels sind?










Zum einen zeigt die interaktive Karte mit den Abstimmungsresultaten nach Bezirken sehr schön den Röschti- und Polentagraben in der Familienpolitik: Die französische und italienische Schweiz wünschen mit 70.2% bzw. 66.0% Ja eine staatliche Förderung der ausserfamiliären Kinderbetreuung, während die Deutschschweiz (48.8% Ja), v.a. in den konservativen, ländlichen Gebieten, noch auf das traditionelle Familienmodell setzt. Zum anderen zeigt sie aber auch, dass sich in dieser Frage ein Stadt-Land-Graben auftut: Die grösseren Städte und die urbaneren Gebiete im Mittelland und im Baselbiet haben den Familienartikel ebenfalls angenommen. (Von den grösseren Städten ist auf der Karte nur St. Gallen nicht zu erkennen, aber die Stadt hat als einzige Gemeinde des Kantons mit 54.7% Ja dem Familienartikel zugestimmt.) Je nach Siedlungstyp stimmten in den Städten und Agglomerationen 51.1% bis 63.2% dem Familienartikel zu, nur in den ländlichen Gemeinden lehnten durchschnittlich 54.1% den neuen Verfassungsartikel ab.

Noch deutlicher wird der Stadt-Land-Graben, wenn man obige Karte mit einer Karte der Bevölkerungsdichte in der Schweiz vergleicht:









Die interaktive Karte des Bundesamts für Statistik zeigt die Bevölkerungsdichte pro Gemeinde für das Jahr 2010 (und in Zehnjahresschritten zurück bis ins Jahr 1850). Quelle: www.bfs.admin.ch

Unbestritten war das Raumplanungsgesetz: Fast zwei Drittel der Stimmenden befürwortete die griffigeren Vorschriften, mit denen die PlanerInnen die Zersiedelung stoppen oder zumindest verlangsamen wollen. Ob dies gelingt, wird sich auch erst mit der Umsetzung des neuen RPG in den nächsten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten herausstellen.










Abgelehnt wurde das neue RPG nur vom Kanton Wallis, zwei Waadtländer und einem Berner Bezirk sowie in den Nordtessiner Tälern und im Puschlav. Das Wallis ist diejenige Region, die mit der Rückzonung von zu grossen Bauzonen die grössten Probleme haben wird — verständlich, dass die Walliser, die auch in anderen Fragen sich nur ungern dreinreden lassen, das neue RPG mit satten 80.4% ablehnten. Unverständlich ist allerdings, dass die Walliser, die u.a. vom Tourismus leben und deshalb auf intakte Landschaften angewiesen sind, nicht schon längst etwas gegen die Zerstörung ihrer schönen Berglandschaft unternommen haben. Jetzt werden sie halt — wie schon bei der Zweitwohnungsinitiative vor einem Jahr — zu ihrem Glück gezwungen...

Auch bei dieser Abstimmung taten sich ein Röschti-und-Polenta-Graben und ein Stadt-Land-Graben auf, wenn auch diese Gräben etwas weniger tief waren als beim Familienartikel. Mit 51.8% bzw. 55.0% Ja stiess das Raumplanungsgesetz In der französischen und italienischen Schweiz auf wesentlich weniger Zustimmung als in der Deutschschweiz, die das neue Gesetz mit 66.8% Ja befürwortete. Während der Ja-Stimmenanteil von den urbanen Zentren zu den Agglomerationsgemeinden von 70.2% auf 63.2% abnimmt, haben die ländlichen Gemeinden mit 55.7% Ja deutlicher zugestimmt als die kleineren Landstädte, die keiner Agglomeration angehören und mit nur 53.7% Ja skeptischer waren. Zu vermuten ist, dass hier die Nein-Kampagne des Gewerbe- und des Hauseigentümer-Verbands noch am ehesten auf fruchtbaren Boden stiess, während sich auch in der ländlichen Bevölkerung allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass gegen die Zersiedelung etwas unternommen werden muss.

Quelle: Alle Karten und Zahlen stammen vom Bundesamt für Statistik.

Montag, 25. Februar 2013

Meh Dräck i de Tiwi-Wärbig

Man verzeihe mir das Schweizerdeutsch im Titel, aber in diesem Beitrag geht's um korrektes Schweizerdeutsch in der TV-Werbung, um Schmutz und Dräck. Viele Dialekt-Spots sind sprachlich einwandfrei, aber wenn die Werbetexter kein Schweizerdeutsch können, dann nervt das nur noch...

"Bang! And the dirt is gone!" Während dieser Claim von Cillit Bang mit "Bang! Und der Schmutz ist weg!" tipptopp ins Hochdeutsche übertragen wurde, bedeutet die Übersetzung ins Französische "Bang! Dites adieu à la saleté!" den höflichen Abschied vom Schmutz, was zwar nicht 1 zu 1 übersetzt, aber dennoch okay ist. Aber "Bäng! Und de Schmutz isch wägg!" ist kein richtiges Schweizerdeutsch, denn Schmutz ist "Dräck" — das wissen in der Deutschschweiz alle. Seit der Rockmusiker Chris von Rohr als Jurymitglied in der Talentshow MusicStar von den Kandidaten "meh Dräck" verlangte, entwickelte sich Meh Dräck zum Kultslogan und wurde 2004 in der Schweiz zum Wort des Jahres gewählt. "En Schmutz" hingegen ist etwas ganz anderes: ein Kuss. Rückübersetzt bedeutet der CH-Slogan also: Bang! Und der Kuss weg! Wenn schon Dialekt-Spots, dann ist es höchste Zeit, dass sich die Werber um korrektes Schweizerdeutsch bemühen: Bäng! Und de Dräck isch wägg!

Dienstag, 19. Februar 2013

Stadttour mit Wolff

Am Samstag lud der Zürcher Stadtratskandidat Richard Wolff zu einem einem Quartier-Rundgang "Hinter den 7 Geleisen". Zusammen mit Niklaus Scherr von der Alternativen Liste zeigte er auf, wie die SBB als Staatsbetrieb Volkseigentum an den Meistbietenden verhökert und die Stadtentwicklung vorantreibt. Ein solch kompetente Führung durch mein ehemaliges Wohnquartier konnte ich mir nicht entgehen lassen!


Die Besichtigungstour durch den Zürcher Kreis 4 führte von der Sihllpost zum Güterbahnhof (Basiskarte: maps.google.ch, zum Vergrössern auf die Karte klicken!)

Ideen und Pläne, wie man die zentral gelegenen Bahnareale in Zürich besser nutzen könnte, gab es schon immer. Ziemlich konkret wurden diese Pläne aber mit dem Projekt "HB Südwest" der Architektengemeinschaft Baenziger-Bersin-Schilling, die 1980 einen von SBB, Stadt und Kanton Zürich ausgeschriebenen Wettbewerb gewann. Ein Gestaltungsplan, der den Moloch über den Geleisen verhindert hätte, wurde nach einer Propagandaschlacht sondergleichen abgelehnt. Doch aus Rentabilitätsgründen wurde HB-Südwest nie realisiert — zu teuer ist das Bauen auf einer Betonplattform über den Geleisen. Das änderte sich auch nicht, als die UBS als Investor einstieg und dem Projekt einen neuen Namen verpasste: Eurogate. 2001 wurde Eurogate beerdigt und die UBS musste Projektierungskosten in zweistelliger Millionenhöhe abschreiben.

Geblieben ist die Idee, auf den nicht mehr benötigeten Bahnarealen zwischen Geleisefeld und Lagerstrasse ein neues Stadtquartier mit Hochschulen, Bürogebäuden und 500 Wohnungen zu bauen. 2006 stimmten die StadtzürcherInnen einem entsprechenden Gestaltungsplan zu — und seit 2009 ist der "halbe" HB Südwest tatsächlich in Bau, wenn auch das Projekt Europaallee mit dem ursprünglichen HB Südwest nur noch wenig gemeinsam hat.


1 Ein Campus für 3000 Studis


Blick vom Campusplatz zurück zur Sihlpost

Auf Baufeld A des neuen Stadtquartiers ist über einem Outdoor-Shoppingcenter im Sockelgeschoss ein neuer Stadtplatz entstanden. Um den Campusplatz gruppieren sich drei Gebäude der Pädagogischen Hochschule Zürich, die eine Top-Infrastruktur für die Ausbildung von 3000 zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer bieten, sowie ein Bürogebäude der Credit Suisse an zentralster Lage. Solche zentralen Lagen seien immer umkämpft, sagte Wolff, denn die wichtigste Frage in der Stadtentwicklung sei, wie eine solche Lage am sinnvollsten genutzt werde und wer über die Nutzung entscheiden könne.


2 SBB vergoldet Bahnareale


Im hintersten Gebäude auf dem Baufeld E entstehen Büro- und Verkaufsflächen sowie gehobene Stadtwohnungen und Penthouses.

Am 13.2.2013 titelte der Tages-Anzeiger: Die SBB versteigern Wohnungen an bester Lage — und AL-Gemeinderat Niklaus Scherr zitierte dazu seinen Leserbrief:

"(...) Nach Abschluss aller Wettbewerbe zeigt sich eine wenig erfreuliche Bilanz, die den Gegnern recht gibt: Insgesamt sollen in der Europaallee bloss 373 Wohnungen entstehen, davon 115 luxuriöse Eigentumswohnungen, 72 Apartments in einer Seniorenresidenz 'für gehobene Ansprüche' sowie 186 Mietwohnungen mit noch unbekannten Mietpreisen. Für die 46 Eigentumswohnungen auf Baufeld G, die jetzt an die Meistbietenden versteigert werden, investieren die SBB — ohne Landkosten — rund 35 Millionen Franken und können mit einem Erlös von rund 100 Millionen Franken rechnen. Aus dem Gewinn errechnet sich ein geradezu obszöner Landpreis von 71'000 Franken pro Quadratmeter. Wohlgemerkt für Land, das die SBB-Vorgängerin Nordostbahn von Alfred Escher vor 150 Jahren für gerade mal 1 bis 10 Franken pro Quadratmeter erworben hat! (...)" (TA vom 16.2.2013)


3 AL fordert sozialen Ausgleich


Im Kreis 5, auf der anderen Seite der Geleise, herrscht eine Pattsituation: Die Grundstücke zwischen Bahngeleisen und Zollstrasse gehören einerseits den SBB, andererseits der Stadt Zürich.

An der Zollstrasse im Kreis 5, wo die SBB nur gemeinsam mit der Stadt ein Projekt realisieren können, will die AL Gegensteuer geben und fordert zum Ausgleich den Bau von gemeinnützigen und zahlbaren Wohnungen. Wolff meinte, Ziel der Stadt Zürich sei es, den Anteil an gemeinnützigem Wohnraum zu steigern, aber auf den SBB-Arealen passiere genau das Gegenteil.


4 Luxuswohnungen statt Rangierarbeiter

 
Der Blick zurück auf die Baustelle an der Europaallee und ein neuer SBB-Wohnbau an der Geleisefront bei der Langstrassenunterführung

Früher standen gemäss Niklaus Scherr an Stelle des weissen Wohnblocks mit Luxuswohnungen Wohnhäuser einer SBB-nahen Institution. In den günstigen Wohnungen wohnten Rangierarbeiter und ihre Familien. Mit dem Argument, sie brauchen den Platz für zusätzliche Geleise, gelang es den SBB, ihre eigenen Arbeiter aus ihren Wohnungen zu drängen, die Häuser abzubrechen und Luxuseigentumswohnungen zu erstellen, die innert einer Stunde verkauft waren. Besonders stossend an dieser Geschichte ist, dass in den günstigen Wohnungen auch IV-Rentner gewohnt hatten, die sich beim Rangieren eine Staublunge geholt hatten, weil früher die Bremsbeläge aus Asbest bestanden.


Neue Luxuswohnungen an der Neufrankengasse. Auf der Bauwand steht: Ich würde ja sofort eine Luxuswohnung plattmachen — ich bin aber nur ein Plakat.

Daran dass an der Neufrankengasse, der Fortsetzung der Lagerstrasse, die Häuser abgerissen und mit Luxuswohnbauten ersetzt wurden, sind für einmal nicht die SBB schuld, sondern die Stadt Zürich, die für eine neue Tramlinie die Baulinien zurückversetzt hat. Dadurch wurde es unrentabel, die alten baufälligen Häuser zu renovieren.


5 Verdichtung = mehr Wohnfläche für weniger Leute


Ehemaliges Wohnhaus des Kulturflaneurs an der Schöneggstrasse 34

Die Verdichtung durch den Abbruch von alten Gebäude und den Bau von neuen Gebäuden mit höherer Ausnützung heisst noch lange nicht, dass dann in diesen Gebäuden auch mehr Leute wohnen — im Gegenteil: Da die Wohnfläche pro Person laufend zunimmt, wohnen auf der gleichen Fläche immer weniger Leute, wie dieses Haus an der Schöneggstrasse 34, das ich aus eigener Anschauung gut kenne, zeigt:

1888/92 wohnten in den zehn 3-Zimmer-Wohnungen mit jährlichen Mietzinsen zwischen 400 Franken im abgeschrägten Dachgeschoss und 450 Franken im Parterre 18 Partien mit total 68 Personen. Als ich 1987 in diesem Haus wohnte, waren die gleichen zehn Wohnungen mit monatlichen Mieten zwischen 600 und 800 Franken (je nach Mietdauer und Renovationsgrad) mit 9 Partien und total 21 Personen belegt. In rund hundert Jahren hat sich also die Miete verzwanzigfacht, während die Belegungsdichte auf 30% gesunken ist.

In den 25 Jahren seither ist — soviel ich weiss — das Haus saniert und das Dachgeschoss ausgebaut worden. 2010 bot jemand, der auf eine Weltreise ging, im Internet seine möblierte 2-Zimmer-Wohnung in diesem Haus für 1200 Franken alles inklusive an. Die Miete hat sich also nochmals fast verdoppelt. Anzunehmen ist auch, dass die Belegungsdichte weiter abgenommen hat und heute in jeder Wohnung nicht viel mehr als eine Person wohnt.

6 Stadtbiotope in der Schneise fürs Tram

 

Urbane Freiräume am Gleisbogen

Obwohl das "Märlitram" sicher nicht vor 2025, wohl aber gar nie kommt (vgl. NZZ vom 11.10.2011), hat die 2008 beschlossene Veränderung der Baulinien bereits Auswirkungen: An der Neufrankengasse sind Schickimicki-Wohnbauten entstanden und an der Stadtkante am Gleisbogen muss die Stadt die SBB mit 12 Millionen Franken entschädigen, obwohl noch kein Meter von der neuen Tramschneise realisiert worden ist.

Andererseits: Wo nichts mehr geht, weil die alten Bauten weg müssen, aber das Neue — hier die Tramlinie 1 — noch nicht und vielleicht nie kommt, entstehen urbane Freiräume, in denen sich wenig zahlungskräftige, dafür aber flexible Nutzungen ansiedeln und die Kreativität aufblüht.


7 Verlorener Kampf gegen das PJZ


Dieser seltsame Betonpilz im Kohlendreieck ist das neue Baudienstzentrum der SBB.


Dem Abbruch geweiht: Der Güterbahnhof, seinerzeit der modernste in ganz Europa

Vor dem stillgelegten Güterbahnhof kommen Erinnerungen auf: z.B. an die Panduren, wie die Taglöhner genannt wurden, die noch vor zehn, zwanzig Jahren hier rumgehangen sind und auf einen Job gewartet haben, sei es auf dem Bau, sei es bei einem Zügelunternehmen. Richard Wolff erinnert auch an den verlorenen Kampf vom Verein Güterbahnhof gegen das 600 Millionen teure Justiz- und Polizeizentrum, das anstelle des Güterbahnhofs gebaut werden soll. Leider sprach sich das Zürcher Stimmvolk 2011 mit 54.2% der Stimmen relativ klar für das neue PJZ aus. Das heisst natürlich auch, dass die Tage der zahlreichen Zwischennutzungen im Güterbahnhof gezählt sind — von einem Weinlager über einen Alteisenhändler, einen Cembalo-Bauer und eine Autonome Schule für Sans-Papiers bis zur Kunstausstellung gibt's hier nämlich alles. Schade, schade auch um das 1897 entstandene Gebäude, das damals als Bau derart innovativ war, dass seine Sägezahnrampen danach international zur Anwendung gelangten. Wolff meinte, dass Gebäude gehörte ins UNESCO-Weltkulturerbe...


Auf der einen Seite dieses Sägezahn-Güterbahnhofs wurden Güterwagen entladen, auf der anderen beladen: Unter dem Dach eines "Sägezahns" hatten drei Güterwagen Platz. Hinter dem denkmalschutzwürdigen Güterbahnhof wachsen die Hochhäuser von Zürich-West in den Himmel.

Bleibt zu hoffen, dass wenigstens das Kasernenareal, das durch den Bau des PJZ frei wird, voll und ganz der Stadtzürcher Bevölkerung zu Gute kommt!


8 Kunst im Sägezahn-Güterbahnhof



Im Uhrzeigersinn: Ein "Sägezahn" als Galerie — Karl Geisers Vorlage für das Denkmal der Arbeit auf dem Helvetiaplatz — Köpfe von Otto Müller — Skulpturen von Trudi Demut

Die Stiftung Trudi Demut und Otto Müller zeigt im alten Güterbahnhof viele Werke von Trudi Demut, Otto Müller sowie KünstlerInnen, die im Atelierhaus an der Wuhrstrasse tätig waren oder sind, oder aus deren Umfeld stammen. Die Geschichte dieses Atelierhauses hier auch noch aufzurollen, wäre zwar spannend, würde aber eindeutig zu weit führen. Noch bis Ende April vermittelt diese Ausstellung einen grossartigen Überblick über das Stadtzürcher Kunstschaffen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts — in den interessanten Räumlichkeiten des alten Güterbahnhofs.


Unsere Stadtwandergruppe an der Führung durch die Ausstellung "Weitblick — Trudi Demut und Otto Müller, Wuhrsträssler und Wuhrverwandte über Alles und Jenes und Weiteres hinaus" in der Kunsthalle im alten Güterbahnhof

Kuratiert wurde diese Ausstellung von Ralph Baenziger, der auch durch die Ausstellung führte, also ausgerechnet von jenem Ralph Baenziger, der 1980 mit seiner Architektengemeinschaft und dem Projekt HB Südwest den Wettbewerb um die Neugestaltung des südwestlichen Bahnhofgeländes gewonnen hatte (siehe am Anfang dieses Beitrags). In der Folge hat er zwei Jahrzehnte lang am Projekt HB Südwest / Eurogate gearbeitet, das nie realisiert wurde. Auch mit über 70 ist Ralph Baenziger immer noch eine Saftwurzel, der mit viel feu sacré und Nonchalance durch die Ausstellung führte und sich hin und wieder einen Seitenhieb auf das Zürcher Establishment nicht verkneifen konnte.

Ralph Baenziger, Architekt und Ausstellungskurator

Fazit: Auf der Stadttour "Hinter den 7 Geleisen" habe ich einiges über Zürich, Stadtentwicklung und die SBB als Akteur gelernt. Und: Richard Wolff, Geograf und ein alter Freund von mir, kennt seine Stadt wie seinen Hosensack. Deshalb wird er sich als Zürcher Stadtrat gut machen und ich würde ihn — wäre ich in Zürich wahlberechtigt — mit Überzeugung in die Stadtregierung wählen: Zürich braucht einen Wolff mit Biss!