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Samstag, 6. Juli 2013

Schnellkutschenverbindung

In diesem Eintrag, den Frau Frogg in ihrem Bericht über ein wunderbares Gastmahl bei Familie Punctum bereits angekündigt hat, geht es um Meissner Eisenbahnfeindlichkeit, das Delirium furiosum und die Schnellkutschenverbindung als famose Problemlösung.

Die Vorgeschichte: Am ersten Tag unseres Besuchs bei Frau Punctum haben wir einen Ausflug nach Meissen gemacht. Als bekennende NichtautofahrerInnen sind wir auf den öffentlichen Verkehr angewiesen — in den Ferien sind wir also sozusagen als öV-Tester unterwegs und haben so schon manche Abenteuer erlebt.

Bild: FroggFoto

Da wir die Bushaltestelle nicht auf Anhieb gefunden haben, gingen wir auf den nahen Bahnhof, der zwar noch keine Ruine war, aber angesichts uralter Bahntechnologie und fortschreitenden Zerfalls nicht gerade vertrauenserweckend wirkte. Vergeblich suchten wir einen Billetautomaten, um Fahrscheine nach Meissen zu lösen. Fragen konnten wir niemanden, weil wir weit und breit die einzigen waren. Einzig die Laufschriftanzeige liess uns hoffen, dass der Zug der DB, der im Zweistundentakt verkehrt, tatsächlich kommen würde. Um so überraschter waren wir, als eine topmoderne Dieselkomposition pünktlich auf dem grasüberwachsenen Gleis 1 einfuhr, dann in zügigem Tempo das Triebischtal runterkurvte und uns in wenigen Minuten nach Meissen-Triebischtal brachte, wo die Bahnlinie zur Zeit auf einer Baustelle endet, weil die Brücke über die Elbe erneuert wird. Die Fahrscheine konnten wir — anders als bei uns in der Schweiz — am Automaten im Zug lösen.

Unser Zug in Meissen-Triebischtal — über Nebenstrecken tuckert er in zwei Stunden via Nossen und Döbeln nach Leipzig.

Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Bahnlinie von Dresden nach Leipzig, die 1839 eröffnet wurde, die erste deutsche Ferneisenbahn sei, und ich konnte mir nach unserem Eisenbahnabenteuer vom Vortag gut vorstellen, dass diese Strecke durchs Triebischtal führte. Nein, nein, versicherte mir die fröhliche Runde an der Grillparty im Garten von Familie Punctum, die älteste Fernbahnstrecke Deutschlands hätte von Dresden über Coswig und Riesa nach Leipzig geführt.


Zum Vergrössern auf die Grafik klicken! Bildquelle: upload.wikimedia.org

Und die Geschichtslehrerin in der Runde fügte noch an, dass die konservativen Meissner sich erfolgreich gegen die technische Neuerung gewehrt und dafür gesorgt hätten, dass Meissens Bahnhof ins benachbarte Coswig komme. Ich glaube, die Meissner hatten einfach Angst vor dem Delirium furiosum, vor dem ein um 1835 erstelltes Gutachten des "Königlich Bayrischen Medizinalkollegiums" über die Gesundheitsrisiken des neuen Transportsystems eindringlich warnte:
"Ortsveränderungen mittels irgend einer Art von Dampfmaschine sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, 'delirium furiosum' genannt, hervorzurufen. Selbst zugegeben, daß Reisende sich freiwillig der Gefahr aussetzen, muß der Staat wenigstens die Zuschauer beschützen, denn der Anblick einer Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, um diese schreckliche Krankheit zu erzeugen. Es ist daher unumgänglich nötig, daß eine Schranke, wenigstens sechs Fuß hoch, auf beiden Seiten der Bahn errichtet werde." (vgl. Ein früher Fall von Technology Assessment oder die verlorene Expertise)
Ob die Bahnlinie tatsächlich wegen Meissens Eisenbahnfeindlichkeit oder wegen der höheren Kosten um Meissen herumgebaut wurde, bleibe dahingestellt. (Gemäss Wikipedia hätte die Strecke über Meissen 1'956'000 Thaler gekostet, während für die nördlichere Variante nur 1'808'500 Thaler veranschlagt wurden.) Auf jeden Fall sei für diejenigen Meissner, die auf das neue, aber gefährliche Verkehrsmittel nicht verzichten wollten, eine Schnellkutschenverbindung zum Bahnhof in Coswig eingerichtet worden — ein Ausdruck, der angesichts der massiven Verkehrsprobleme, mit denen Meissen wegen des Hochwassers zu kämpfen hatte, an unserer Grillparty ein heiteres Gelächter auslöste.

Provisorisches Stations-Restaurant bei Althen mit abfahrendem "Dampfwagen" (Lokomotive BLITZ) in Richtung Leipzig, ca. 1837. Bildquelle: commons.wikimedia.org

Sonntag, 30. Juni 2013

Ostalgische Ampelmänner und -frauen

Nachdem ich Frau Frogg in einem Kommentar zu ihrem Text über das Gastmahl des Meeres der Ostalgie bezichtigt habe, bin ich selber der Ostalgie verfallen und habe das Internet nach ostalgischen Produkten durchforstet. Gefunden habe ich eine ganze Ampelmännchen-Industrie.


Bildquelle und Bericht über die Ampelmännchen-Studie: www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/317310.html

In den Ferien haben wir in der sächsischen Zeitung einen Bericht gelesen über eine neue Studie, die nachweist, dass DDR-Ampelmänner und -frauen besser erkennbar und lesbar sind als ihre westlichen Pendants — und erst noch vor allem bei Kindern schneller zur richtigen Reaktion führen: Rüber gehen oder stehen bleiben.

Bei der Internetsuche nach Ostalgie-Produkten hatte ich den grossen Ampelmännchen-Testbericht im Hinterkopf. Deshalb haben mich auf www.racheshop.de und auf www.ostprodukte-versand.de diese Fruchtgummis angesprungen — allerdings bin mir inzwischen gar nicht mehr sicher, dass die Fruchtgummi-Ampelmännchen tatsächlich ein Original-DDR-Lebensmittel sind.

Original ist hingegen das Design des Ost-Ampelmännchens, das 1961 vom Verkehrspsychologen Karl Peglau (1927 - 2009) entwickelt wurde. Nach der deutschen Wiedervereinigung war das Ampelmännchen akut bedroht — die Aktion "Rettet das Ampelmännchen!" wehrte sich sein Verschwinden. 1997 war dann klar: Die beliebten Ost-Ampelmännchen waren gerettet und durften ihren Platz im Strassenbild behalten. Sie wurden zum Symbol der Ostalgie schlechthin. Der Berliner Industriedesigner Markus Heckhausen machte den Ost-Ampelmann und die Ost-Ampelfrau zu Kultfiguren und vermarktet sie seit 1996 in allen Formen und Farben: als Flaschenöffner, Fruchtgummis, Magnete, Korkenzieher, Schlüsselanhänger, T-Shirts etc. etc., siehe ampelmannshop.com — der Ampelmann ist inzwischen auch eine Marke.


Bildquelle: convention.visitberlin.de

Samstag, 29. Juni 2013

Leben mit dem Hochwasser

In meinem letzten Eintrag vor unseren Ferien Gummistiefel oder Badehosen? war ich noch optimistisch und hoffte, dass die Fluten abgeflossen seien bis wir in die sächsische Schweiz kämen. Waren sie aber noch nicht ganz — die Pegel waren zwar am Sinken und die Wassermassen hatten sich elbabwärts verlagert, dennoch hätten wir ein-, zweimal Gummistiefel gut gebrauchen können. Das grosse Aufräumen hatte erst begonnen.

Nachdem uns unsere GastgeberInnen klar gemacht hatten, dass nur flussnahe Zonen betroffen waren, in vielen Teilen von Dresden und der sächsischen Schweiz aber nur wenig oder gar keine Auswirkungen des Jahrhunderthochwassers zu spüren seien, haben wir uns entschlossen, unsere Ferienreise trotzdem anzutreten. Wir wollten weder Katastrophentouristen sein, noch Feriengäste, die wegen kleineren Schwierigkeiten gleich ihre Ferien stornieren. Allerdings waren die hochwasserbedingten Schwierigkeiten hin und wieder doch grösser, als wir uns das vorgestellt hatten. Wir hatten uns auf einiges gefasst gemacht, dennoch war der Anblick der von braunen Fluten angerichteten Schäden bisweilen erschütternd.

Die Hochwassermarken am Rathaus der Stadt Wehlen zeigen, dass es verheerende Hochwasser an der Elbe immer wieder gab. Allerdings muss die Häufung zu denken geben — allein in diesem Jahrhundert sind es schon drei Markierungen: 2002, 2006 und 2013 (fehlt noch, kommt aber möglicherweise dahin, wo das geschosshohe Holzbrett die Farbe wechselt).

Für die direkt Betroffenen ist Hochwasser immer eine kleine oder grössere Katastrophe, mein Eintrag Hochwasserpanoramen zeigt aber, dass Hochwasser im Hochsommer den indirekt Betroffenen auch Spass machen kann, vorausgesetzt, das Wasser stammt aus einem See und ist deshalb klar. Wenn sich aber eine braune Brühe durchs Tal wälzt, die eine stinkende Schlammschicht zurücklässt, die beim Trocknen betonhart wird und nur noch mühsam mit dem Hochdruckreiniger zu entfernen ist, dann ist das überhaupt nicht mehr lustig. Und wenn es in elf Jahren zum dritten Mal passiert, ist es auch verständlich, wenn Leute aufgeben und wegziehen.

Wir bewunderten deshalb die Tapferkeit vieler Betroffener, die mit dem stoischem Gleichmut ihr zerstörtes Mobiliar auf die Strasse tragen, die Keller leerpumpen, den Dreck wegspritzen und mit der Hilfe von Freunden einen Neustart wagen — mit dem Ziel, möglichst rasch zur Normalität zurückzukehren. Improvisieren ist angesagt: Im Journalcafé in der Meissner Altstadt beispielsweise wurde das Bad von Zimmer 10 des zugehörigen Hotels kurzerhand zur Toilette umfunktioniert, weil die Gäste-WCs im Untergeschoss noch nicht benutzbar waren.

An vielen Orten hat man aus den Erfahrungen vergangener Hochwasser gelernt und konnte mit Sandsäcken und vorbereiteten Spundwänden verhindern, dass das Wasser eindringt. Nach dem letzten Hochwasser haben Besitzer von flutgefährdeten Lokalen im Erdgeschoss ihre Lokale mit geeigneten Materialien hochwassertauglich gemacht, so dass sie diesmal nur den Dreck rausspritzen und wieder einrichten mussten. Da im Gegensatz zum Jahrhunderthochwasser von 2002 das Wasser der Elbe diesmal langsamer stieg, waren die Leute gewarnt und konnten ihre Erdgeschosse rechtzeitig räumen. Dennoch sind die Schäden immens und gehen in die Milliarden.

Grossartig war auch die Solidarität und Hilfsbereitschaft vieler Leute angesichts der Flutkatastrophe. Doch kaum war das Hochwasser abgeflossen, begannen die Diskussionen: Wer bezahlt die Schäden? Wie sollen die Hochwassergelder verteilt werden? Wer ist schuld, dass geplante Massnahmen, wie die Erhöhung von Dämmen nicht rechtzeitig umgesetzt werden konnten? Interessant fand ich auch einen Artikel in der Sächsischen Zeitung, der aufzeigte, dass von rund fünfzig geplanten Hochwasserschutzmassnahmen vor allem technische Massnahmen wie Dämme und Deiche realisiert wurden, während Massnahmen zum Rückhalt und Verteilung von Wassermassen, wie die Renaturierung von Auenlandschaften und die Einrichtung von Hochwasserpoldern auf die lange Bank geschoben wurden. Es ist den Sachsen zu wünschen, dass sie noch besser lernen, mit wiederkehrenden katastrophalen Hochwasserereignissen umzugehen.

Übrigens: Obwohl es zwei Wochen lang praktisch nicht regnete und das Thermometer zwei-, dreimal auf über 30 Grad kletterte, habe ich die Badehosen nie gebraucht...

Sonntag, 9. Juni 2013

Gummistiefel oder Badehosen?

Heute fahren wir in die Ferien ins Ausland in die Schweiz, genauer: in die sächsische Schweiz. Ausgerechnet! Schon seit Tagen beobachten wir die Pegelstände an der Elbe und hoffen, dass das Hochwasser schon abgeflossen ist, wenn wir kommen. Guten Mutes haben wir die Titelfrage beantwortet und die Badehosen eingepackt.

Die Satellitenbilder, die gestern in der deutschen Tagesschau zu sehen waren, haben mich allerdings ziemlich beeindruckt:




Satellitenbilder des NASA-Satelliten Terra zeigen das Einzugsgebiet der Elbe vor und nach dem verheerenden Hochwasser. Die sächsische Schweiz (südöstlich von Dresden) ist auf diesen Bildern unten rechs. Bildquelle: Spiegel online - Wissenschaft

Wirklich beeindruckend, wenn die überfluteten Gebiete sogar aus dem All auszumachen sind! Mit diesem Eintrag verabschiede ich mich in die Sommerferien mit dem Versprechen, hier ausführlich zu berichten.

Samstag, 1. Juni 2013

Schöner schlafen

Der Dauerregen schlägt mir aufs Gemüt — der Frühling ging den Bach runter und der heutige Sommerbeginn bedeutet nur, dass der Regen wärmer wird. Gegen diese wettermässige Tristesse hilft nur eines: eine Veränderung in der Wohnung.

Seit einer Woche schlafe ich in einer Galerie, denn ich weiss noch nicht wohin mit den Lithografien, die bei der Räumung der elterlichen Wohnung angefallen sind. Ich glaube zwar nicht, dass ich mit diesen Bildern besser schlafe, aber auf jeden Fall schöner...


Meine Bettgalerie — vorher

Um etwas gegen die Wettertristesse zu tun, habe ich die Bilder in meiner Bettgalerie umgehängt. Und ich glaube, die Umhängeaktion erfüllt ihren Zweck: Mit den drei orangefarbenen Wüstenlandschaften wirkt das Zimmer frischer und freundlicher.


Meine Bettgalerie — nachher

Und last but not least steht ist auf dem rechten Bild das Wort "soleil" ins Papier gepresst — hoffentlich nützt's!

Mittwoch, 24. April 2013

Streetview by Night

Wenn es Nacht wird über Luzern, dann wird es ruhiger in unserer Quartierstrasse. Nach Mitternacht sind nur noch Autos zu hören, die über den Sedel fahren. Aber durch unsere Quartierstrasse fährt zu dieser Nachtzeit höchstens alle zehn Minuten ein Auto — und sonst ist sie, wie meine Streetview by Night zeigt, menschenleer:


Streetview von unserer Dachwohnung, heute um 1 Uhr 07: Im Hintergrund gut zu erkennen sind die neonbeleuchteten Stationszimmer im Hochhaus des Kantonsspitals.


Das Nachbarhaus auf der anderen Strassenseite im Schein der Strassenlampe: kein Licht in den Wohnungen, die Fensterläden zum Teil zu, wahrscheinlich sind alle im Bett...


Nochmals Streetview um 1 Uhr 12 die Strasse rauf und um 1 Uhr 14 die Strasse runter: Mir gefallen die Spiegelungen im geöffneten Dachfenster.

Und das alles bei Vollmond!

Mittwoch, 17. April 2013

Meistgehasste Britin

"Irgendwie sind wir heute alle Thatcherianer", sagte David Cameron an der Beerdigung der Eisernen Lady. Zu 1% hat er Recht: Sogar für die Linken ist heute ein Trauertag — sie verlieren liebstes Feindbild. Zu 99% hat er Unrecht: Auch nach ihrem Tod ist Maggie Thatcher die meistgehasste Britin.

JUSO-Präsident und SP-Vize David Roth brachte am 8. April auf seiner Facebook-Seite einen reichlich makabren Toast auf Maggies Tod aus: "Sie desindustrialisierte Grossbritannien, zerschlug die Gewerkschaften, gab alle Macht dem Finanzmarkt und war eine gute Freundin von Massenmörder Pinochet. Ich glaub es ist nicht zynisch heute ein Bier auf Maggies besten Tag zu trinken." Nach diesem Statement brach in der Zentralschweiz ein Mini-Shitstorm über den SP-Politiker herein — und ich ärgerte mich ein erstes Mal, dass über Stilfragen diskutiert wurde und nicht über das, was Thatcher den Briten und Britinnen angetan hat.


Bildquelle: ibnlive.in.com

Die polarisierende Politikerin spaltet die britische Gesellschaft sogar noch über ihren Tod hinaus: Die einen sorgen dafür, dass die Eiserne Lady ein 10 Millionen Pfund teures Staatsbegräbnis mit viel militärischem Pomp bekommt, obwohl der britische Staat an allen Ecken und Enden sparen muss. Ein Hohn für die vielen Opfer des Thatcherismus, die sicher auch heute noch keine Thatcherianer sind. Den passenden Kommentar zum Deluxe-Begräbnis lieferte Filmemacher Ken Loach: "Wir sollten ihre Beerdigung privatisieren, die Ausrichtung ausschreiben. Und der billigste Anbieter kriegt den Zuschlag."


Screenshot der Google-Bildersuche nach "the witch is dead ding dong": Nach Thatchers Tod ist Judy Garland's Song aus "Zauberer von Oz" die Nummer 1 der UK-Charts, die Version von Ella Fitzgerald führt die UK-Charts der Jazz-Songs an.
Quelle: www.webpronews.com

Andere wiederum feiern den Tod der alten, pflegebedürftigen Ex-Politikerin wie den Tod der verhassten Hexe im Märchen. Warum ist Maggie Thatcher auch 23 Jahre nach ihrem Rücktritt als Premierministerin (1979 - 1990) immer noch so verhasst?
  • Gemäss Wikipedia privatisierte sie zahlreiche Staatsunternehmen (u.a. British Telecom, British Petroleum, British Airways), sie ruinierte den National Health Service, der zuvor als eines der besten öffentlichen Gesundheitssysteme bekannt war. Nach der Privatisierung der Wasserwerke stiegen die Preise für Trinkwasser um 46%, während die Qualität sank und das Leitungsnetz vernachlässigt wurde. Die Privatisierung reduzierte zwar die Staatsquote und verbesserte das Angebot für die Reichen, aber für die grosse Mehrheit wurden die Leistungen der privatisierten Unternehmen teurer und schlechter.
  • Sie zerschlug die Macht der Gewerkschaften, die — zugegeben — manchmal absurde Auswirkungen hatte (z.B. dass auf Dieselloks zwei Leute mitfahren mussten, weil es auf Dampfloks mit Lokführer und Heizer zwei Jobs gegeben hatte). Beim Streik der britischen Bergarbeiter (1984/85) gegen die geplanten Schliessungen und Privatisierungen ihrer Zechen blieb sie hart. Nach über einem Jahr musste die National Union of Mineworkers (NUM) aufgeben und viele Bergarbeiterfamilien waren ruiniert. Die Entmachtung der Gewerkschaften und die Deregulierung des Arbeitsmarkts führte aber nicht zu einer Senkung der Arbeitslosenquote. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1983 mit 12.5% ihre Spitze und sank erst gegen Ende der Ära Thatcher.
  • Mit dem Big Bang im Oktober 1986 läutete sie die Deregulierung der Finanzmärkte ein. An der Londoner Börse begann der elektronische Wertpapierhandel und der Finanzplatz London, der zuvor gegenüber New York ins Hintertreffen geraten war, startete seine Aufholjagd. Mit dem Big Bang begann aber auch der Kasino-Kapitalismus. Finanzexperten sehen in der Entfesselung der Finanzmärkte eine Ursache für globale Finanzkrise der letzten Jahre.
  • Ebenfalls 1986 schaffte Maggie Thatcher den GLC, den Greater London Council, und fünf weitere von Labour dominierte Stadtregierungen ab. Damit verloren die 32 Londoner Stadtteile ihren Zusammenhalt und London wurde zur weltweit einzigen Metropole ohne zentrale Verwaltung. Damit wurde die Stadtentwicklung privatisiert: Die Erneuerung der 22 km2 grossen Londoner Docklands beispielsweise wurde der London Docklands Development Corporation überlassen, die als Quango (Quasi-autonomous non-governmental organisation) sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen konnte. Die Metropole litt so sehr unter der mangelnden Koordination, dass unter Tony Blair 1999 per Volksabstimmung wieder eine Behörde für gesamt London eingesetzt wurde.
  • Vollends unbeliebt machte sich die eiserne Lady, als sie 1989 die ungerechte poll tax (Kopfsteuer) einführen wollte — seit 1380, als König Richard II. mit einer Kopfsteuer die Peasants’ Revolt ausgelöst hatte, versuchte dies niemand mehr. Millionen von Briten weigerten sich, die Steuer zu bezahlen. Die Proteste gipfelten am 31. März 1990 in der grossen Anti-poll-tax-Demo in London, als berittene Polizei brutal in die friedlich demonstrierende Menge ritt und gewalttätige Ausschreitungen auslöste. Letztlich war die poll tax das Ende der Regierung Thatcher.


"The Battle of Trafalgar", ein 54minütiger Dokumentarfilm von Despite TV zeigt die Polizeibrutalität aus der Sicht von Augenzeugen. Auch nach mehr als zwanzig Jahren löste das Video, das vor einem Jahr von themassawake auf Youtube hochgeladen wurde, immer noch heftige Reaktionen aus.

Maggie Thatcher ist also nicht umsonst die meistgehasste Britin. Deshalb kann ich mich dem unbekannten Sprayer nur anschliessen: Eiserne Lady — roste in Frieden!

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By the way: Am 31. März 1990 war ich mit einem Freund auf dem Trafalgar Square. Als Demotouristen wollten wir den Protest gegen die verhasste pol tax live miterleben. Was wir sahen, war eine riesige, aber friedliche Demonstration. Von der im Video dokumentierten Polizeigewalt haben wir nichts mitbekommen, weil wir auf den Flughafen mussten.

Den Produzenten des Dokumentarfilms kenne ich persönlich. Er ist einer, der nicht hasserfüllt an die Sache geht, sondern relativ cool Stellung bezieht. Ich bin mir deshalb sicher, dass die Polizeigewalt in diesem Video keineswegs aufgebauscht ist.

Donnerstag, 11. April 2013

Eine Beiz ist...

...ein gutschweizerischer Ausdruck für Gasthaus oder Wirtshaus, der manchmal einen abwertenden Beigeschmack hat, manchmal aber auch die Verbundenheit mit einem Lokal zum Ausdruck bringt. Die Anregung zu diesem Gedankensplitter stammt von Lo von Spiegelei, der sich nach meinem gestrigen Eintrag Happy Birthday, dear Kreuz! gefragt hatte, was eine Beiz ist.

Gute Restaurants, die etwas auf sich halten, verwahren sich dagegen, als Beiz bezeichnet zu werden, denn in einer Beiz ist das Trinken (und bis vor wenigen Jahren das Rauchen) wichtiger als das Essen. Auch, aber nicht nur Dank des Rauchverbots, das in Solothurn seit 2009 in Kraft ist, hat sich das Kreuz im Lauf der Jahre von einer Beiz zu einem beliebten Restaurant entwickelt, das für gutes Essen bekannt ist und in dem man abends besser einen Tisch reserviert.

In anderer Hinsicht ist das Kreuz eine Beiz geblieben: Die schönen Holztische werden beispielsweise nicht mit Tischtüchern eingedeckt, wie es in einer Nobelbeiz der Fall wäre. Oder: Sobald sich die Beiz füllt, bleibt man an den langen Beizentischen nicht alleine oder zu zweit — ich jedenfalls komme immer wieder mit Unbekannten ins Gespräch, obwohl ich kein Beizenhocker bin. Eine Beiz ist eben auch ein Treffpunkt. Das Kreuz wird immer auch die Stammbeiz einiger Gäste bleiben, die sich Tag für Tag am Stammtisch oder am Tresen für ein, zwei, drei Feierabendbier(e) treffen.

Auch ich habe mich auf dem Internet kundig gemacht über die Herkunft von "Beiz". Aufschlussreich ist der Wikipediaeintrag zu Beisl, dem österreichischen Pendant zu Beiz oder Beizli. Der Begriff stamme vom tschechischen "pajzl" ab, was soviel bedeute wie Kneipe oder Spelunke. Es handle sich um eine verkleinernde Kurzform des Hauptworts "hampejz" – mit den Bedeutungen "Hundehäuschen, Kegelbahn", später auch "Bordell". Wiktionary führt "Beiz" auf das hebräische Wort בַּיִת‎ (bayiṯ) für "Haus" zurück, von wo es über das Westjiddische und das Rotwelsche ins schweizerische Deutsch gelangt sei. Wer auf Beizentour ist, fragt denn auch gerne seine Saufkollegen: "Gehen wir ein Haus weiter?".

Das italienische Pendant zur Beiz, die Trattoria, ist schliesslich der Ort, wo Speisen "zubereitet" werden (von trattare = bearbeiten, erörtern, konservieren, verarbeiten). In der Schweiz wiederum ist Beizen nicht nur eine spezielle Zubereitungsart von Fleisch und Gemüse, sondern bedeutet auch das Führen einer Beiz: In einer Beiz werden die Gäste vom Beizer oder von der Beizerin bewirtet.

So, das ist jetzt aber genug Wirtschaftskunde für heute!